Dieses Jahr werde ich mich zum ersten Mal (in Deutschland) als Wahlhelfer engagieren. Ich kann es kaum erwarten. Die Anmeldung war nicht einfach – weil ich zu lange behaart habe, mit meinen veralteten Browsern die Sache zu erledigen – also erfolgte sie nur vor einem Monat, und jetzt liegt mein Wahllokal im tiefen südlichen Neukölln. Ich liebe katastrophale, vorstätdische Abenteuer.
In den Wahllokalen habe ich elf Jahre lang gearbeitet, zwischen 1995 und 2006. Damals bedeutete die “Anmeldung”, am Samstag vor meiner ehemaligen Grundschule Schlange zu stehen in der Hoffnung, dass es ein noch einen freien Platz gab. Dadurch konnte ich als Teil des Mechanismus erleben, wie es sich anfühlt, 12 Volksentscheide zu bearbeiten, wobei natürlich keins von Ihnen konkrete Folgen hatte. Ich war zweimal dabei als Romano Prodi eine brüchige Mehrheit gewann, als Bologna zum ersten Mal einen nicht linken Bürgermeister bekam und, 2001, als Italien dem Charme eines pathetischen Witzenerzählers wieder erlag. Dämliche Zeiten.
Dann zog ich nach Preußen. Im Sommer 2006 klopfte es an der Wohnungstür: es war ein älterer Kandidat der CDU, der mich überzeugten wollte, wie schön unsere Kochstraße sei – ich wohnte noch in Kreuzberg 36 – und wie unverschämt der Versuch, sie in Rudi-Dutschke-Straße zu umbennen. Ich war immer noch im positiven Shock, für den Bezirk schon wählen bzw. an solchen Referenda (Volksentscheide, -Begehren und Ähnliches) teilnehmen zu dürfen. Mit einem Lächeln erklärte ich ihm, ein stolzer Sozi zu sein, und schloss die fragile Tür mit einem Knall.
Jetzt, nach 16 Jahren relativer Immobilität und zweifellosen, nationalen Wohlstands, könnte die SPD die Bundestagswahl gewinnen. Wie kam es dazu? Einige Bemerkungen vorweg. Die erste, und wichtigste, ist dass die Deutschen keine Experimente mögen. In diesem Sinne verkörpert die Sozialdemokratie keinen Linksruck, zumal sie während der Merkel-Ära fast immer an der Macht geblieben ist, als Juniorpartnerin. Eine Strategie, die nach drei Großen Koalitionen (insgesamt 12 Jahre) und inneren Protesten wie die 2017, von dem ehemaligen Jusos-Chef Kevin Kühnert angeführt, eine deutliche Korrosion der Partei verursacht hat. Weniger Konsens, weniger Glanz und die praktische Unmöglichkeit, sich als Neuheit zu profilieren. Auch die extrem frühzeitige Wahl des Spitzenkandidaten – ein Jahr vor der Wahl! – schien zu diszipliniert zu sein. Die SPD regiert Deutschland (mit) beinahe ununterbrochen seit 1998, trotz unterschiedlicher Machtverhältnisse. Viele ihrer programmatischer Punkte wurden parlamentarisch gebilligt und sind jetzt Gesetz, siehe den Mindestlohn. Nur die ambitionierte Reform des Gesundheitswesens – mit der Abschaffung des Zwei-klassensystems – ist bisher im Bereich der guten Absichten geblieben. Der aktuelle Bundespräsident war einmal Kanzlerkandidat und gilt als letztes, gutartiges Relikt des Schröderismus.
Und trotzdem lassen die Umfragen staunen. Wer hätte gedacht, dass Merkel ihre Nachfolge nicht sichern kann? Nachdem AKK zurücktrat, und aus guten Gründen – der von Berlin nicht einmal gespürte Thüringer Skandal bezüglich der ersten, potentiellen CDU-AfD Koalition, mit der FDP als Puppe – verschwand die Idee einer zweiten christdemokratischen Kanzlerin. Dafür haben sich die Herren der Kiesinger-Partei zerfleischt, und als Laschet von den eigenen Gremien als K-Kandidat auferlegt wurde, waren sogar die Journalisten am Anfang verblüfft. Die Mitglieder sind immer noch stinksauer. Und Söder, der vielleicht als erster CSU-Vorsitzender es geschafft hätte, ganz Deutschland zu regieren, musste plötzlich Low Profile zeigen. Im Moment ist die Union nur in Bayern stark. Nicht einmal zu den Zeiten von Strauss und Stoiber war das der Fall. Neue, volatile Machtverhältnisse.
Vor allem volatil. Noch nie ist in der Bundesrepublik passiert, dass ein Kanzler nicht wieder antritt. Noch nie, während eines wichtigen Wahlkampfs, konnten drei unterschiedliche Parteien an der Spitze sein – zumindest umfragenmäßig. Die Union leitete die Umfragewerte für Monate, vermutlich auch als Hommage Merkel gegenüber, einer Politikerin, die im Gegensatz zu ihren Paten Kohl nie umstritten gewesen ist. Dann kam die grüne Komet, als Baerbock nominiert wurde. Und jetzt, stabil seit Mitte August, der gute alte Scholz, jedem Spezialeffekt fremd aber zumindest “kompetent”, “nicht improvisiert”, “anständig”. An der Scheinspitze dank den Fehlern der anderen, behaupten viele. Kann sein. Scholz hat kein Buch für den Wahlkampf geschrieben. Baerbock schon, und wegen der exzessiven Wikiplagiate kam sie unter akademisches Feuer.
Es tut mir wirklich leid für Annalena Baerbock. Theoretisch die perfekte Kandidatin, das Gesicht eines möglichen, zeitgemäßen Paradigmenwechsels in der deutschen Politik. Ihre Partei hat dennoch wieder gezeigt, auf Bundesebene tollpatschig zu sein (der absurde Wirrwarr in Saarland), und sie selbt hat ein paar unangemessene Schritte gemacht, von keinem Geniestreich ausgeglichen. Außerdem ist sie weder Veganerin – was eigentlich kein Problem darstellt – noch Vegetarierin – eine Frechheit seitens einer grünen Spitzenkandidatin. Wenn Klimaschutz nur Bio und regionales Essen bedeutet, dann lieber die blasse Version davon, die bereits von SPD und Linke vertreten wird.
Wie ist es also dazu gekommen, dass Scholz plötzlich wieder im Rennen war, und zwar Richtung Kanzleramt? Keine Ahnung. Die schönen, extraroten Plakate? Die geklauten Themen, à la Merkel (siehe die Devise “Kanzler für Klimaschutz”)? Sein souveräner Redestil? Oder vielmehr seine selbstverstänfliche Verkörperung eines “Weiter so”, da er immer noch Vize von Merkel ist? Manche haben Angst vor den sogenannten roten Socken. Im Nachhinein war die Scholz’sche Kandidatur ein kluger Zug innerhalb der Partei, um sich innerlich zu erneuern – durch Persönlichkeiten wie Kühnert oder Esken – und gleichzeitig nach Außen als neue-neue-Mitte zu wirken. Kein sozialdemokratischer Kanzler darf wirklich links sein. Scholz ist es gewiss nicht. Er kann Raute.
Der unerwartete Umfrage-Erfolg von Scholz hat sogar Franziska Giffey gerettet, die SPD Spitzenkandidatin in Berlin, die wegen Plagiate neulich Doktortitel und Ministerposten verloren hat. Sie hat jetzt gute Chancen, die erste Regierende zu werden – wobei ihre konservativen Ansichten darauf hinweisen, dass im Roten Rathaus zu einer lokalen GroKo mit der CDU kommen könnte. Auf Bundesebene hingegen ist es wahrscheinlich, dass die Union Oppositionführerin wird angesichts einer dreiparteilichen Regierung, die aus SPD, Grünen und Liberalen besteht. Eine Ampel also, sicherlich auf einem schmerzhaft verhandelten Vertrag basierend, der Rot-Grün wieder an der Spitze sähe – mit einem Twist, nämlich die Teilnahme der nicht umweltfreundlichen FDP. Die Partei des Christian Lindner, die in der Vergangenheit sowohl mit Adenauer als auch mit Helmut Schmidt regiert hat – und die für eine Weile, 2013-2017, extraparlamentarische Kraft blieb: was für eine Freude! – könnte an Relevanz gewinnen und das Gleichgewicht der kommenden Bundesregierung sogar bestimmen. Rot-Rot-Grün wäre undenkbar, und wenn schon, dem frühen Tode geweiht. Romano Prodi docet.
Die Lage ist also sehr spannend, die Deutschlandkarte könnte wieder sehr rot aussehen. Oder rötlich. Nach Steinmeier, Steinbrück und Schulz hat Scholz die einmalige Chance, die Litanei positiv zu beenden. Und die Inhalte? Die überlassen wir lieber der Partei.
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